Aber ich will am Anfang beginnen: den ersten Kontakt mit Reiki hatte ich Mitte der 90er Jahre; mit Anfang Zwanzig. Ich wollte unbedingt Heiler sein, mit allen Symptomen eines Helfersyndroms. Schnell fand ich einen Reiki-Kurs vor Ort um meinen ersten Grad zu erlangen. In seichtester Esoterik-Manier teilten die Lehrerin und ihre anwesenden erfahreneren Schüler gleich zum Einstieg ihre Anekdoten über die wundersamen Heilungserfolge mit Reiki. „Ja, so ist Reiki!“ seuftze man entzückt im Chor. Ein Wochenende später: die Urkunde in der Tasche suchte ich mir meine ersten „Opfer“, doch die erhofften Wunderheilungen wollten sich nicht einstellen. Aber die Kraft-Aufladung, die Wärme und Entspannung, die der Energiefluss bei mir selbst bewirkte, ob andere mir die Hände aufgelegt hatten oder ich mir selbst, das war ganz klar nicht von der Hand zu weisen!
Also musste der 2. Grad her – mehr ist schliesslich immer besser! Um sicher zu gehen wollte ich nun aber einen Lehrer mit mehr Durchsetzungskraft, weniger seicht, einen wahren Energiebeweger. Das Universum kam mir entgegen mit einem – nach eigener Aussage – Großmeister des Usui-Reiki, einem – nach eigener Einbildung – wahren Magier und spirituellen Lehrer. Der forderte dann auch gleich eine ganze Reihe Entbehrungen, bevor er mich mit seiner Einweihung beglücken dürfe. (Von wem er das gechannelt hatte, weiss ich nicht, der channelte nämlich alles, was ihm gerade so vor die Nase kam…) Ob es auch zu den notwendigen Entbehrungen gehörte, dass er sich – selbst verheiratet und Vater eines Kindes – nach allen Regeln der magischen Verführungskünste (erfolglos) an meine damalige Frau heranmachte, ist mir bis heute verborgen geblieben. So wie der Lehrer es vormachte, waren dann auch bei mir jegliche Versuche magischer Manipulation der bedingten Welt ausgesprochen fruchtlos. Zum Glück, wie ich aus heutiger Sicht sagen kann.
Zunächst bedeutete diese Erfahrung aber die baldige Abkehr von jenem Lehrer; dann von dem ganzen Reiki-Gedöns - das ohnehin immer mehr ins Gerede kam, in den späten 90er Jahren.
Mein Weg als Möchtegern-Heiler ging dennoch weiter, ich suchte mir nur andere Mittel. Von besonderer Bedeutung waren dann buddhistische Medizinbuddha-Einweihungen und meine intensive Beschäftigung mit dem tantrischen Buddhismus. Meine Magie wandte ich den buddhistischen Schützern zu, denn diese Magie schien mir, auf der Basis des Bodhisattva-Versprechens, vergleichsweise sauber. Wenn ich nun manipulative Impulse so gar nicht unterdrücken konnte, gewöhnte ich mir an, diese an einen Weisheits-Schützer wie Mahakala, oder einen friedvollen Bodhisattva zu schicken und ihm zu überlassen, die Energie verpuffen zu lassen, zu verändern oder ungefiltert weiterzuleiten.
Damit einher ging die Einsicht, mit meinen Wünschen den Menschen Freiheit von Symptomen zu bringen ebenso zu verfahren wie mit den (anderen) magischen Impulsen: hier bot sich der Medizinbuddha als „Filter“ an. Mehr gelernt als bewirkt habe ich auf diese Weise, aber das ist wohl ganz im Sinne eines Buddha, dessen Vorstellung von Heilsein nicht in der Freiheit von Symptomen, sondern in der vollen Buddhaschaft besteht. Ob ich mir deswegen eine chronische Krankheit zulegte? Denn manchmal ist vielleicht die Krankheit selbst der Heiler, in diesem Sinne: sie lehrt, sie rüttelt auf – und man kann an sich selbst erproben, wie eine schwere Krankheit auf das Leben wirkt, und was einen auf dem Weg zur Heilung weiterbringen kann. Wachsendes Mitgefühl und Demut inklusive.
Die Krankheit hat mich ganz schön durchgeschüttelt. Tief in mir drin wissend, wie einfach Heilung sein kann, hat die Krankheit mich auf jeder Untiefe von Ohnmacht und Frustration, Wut und Verzweiflung auflaufen lassen, die mein Inneres herzugeben vermochte. Einmal erschien mir die Krankheit in einer Vision als alter Mann; ich fragte sie: was willst Du von mir? Und er sagte: „Ich will Dich töten, weil Du mich töten willst.“ Denkwürdig.
Im neuen Jahrtausend
entdeckte ich dann Zen-Reiki. Und auf den Webseiten bekam ich das Gefühl,
dass hier Reiki in einer Reinheit zu finden sein könnte, die mir in meinem
Werkzeugkasten noch fehlte. Ich suchte intuitiv einen Lehrer aus und hatte
recht bald einen Termin. In die Ferneinweihung hatte ich vollstes Vertrauen, da
ich inzwischen so etliche Fernwirkungen erfahren hatte und räumliche Trennung
als Illusion begriffen hatte. Kurz vor der Einweihung erreichte meine
Frustration wegen meiner Krankheit einen Höhepunkt: meine Zuckerwerte entzogen
sich einfach jeglicher Kontrolle und wollten schlichtweg nicht so, wie ich wollte
(und eigentlich können sollte…). Ohne grosse Erwartungen (Stimme aus dem Off:
das ist immer gut!) setzte ich mich hin und öffnete mich zum vereinbarten
Zeitpunkt für meine dritte Reikieinweihung zum Usui-Meister und Lehrer - nach
Zen-Reiki-Art. Tiefe Ruhe und Wärme durchzog meinen Körper und Geist, der Frust
war wie weggeblasen.
Nach der Einweihung ging ich früh ins Bett und schlief das erste Mal nach langer Zeit wieder extrem tief und erholsam. Am nächsten Tag stellte ich zunächst fest, dass meine Zuckerwerte auf einmal „funktionierten“, umso besser, je weniger ich es forcierte. Als frisch gebackener Reiki-Lehrer nahm ich alsbald meine alten Reikiunterlagen von den ersten beiden Graden in die Hand, um zu schauen, was ich davon verwenden könnte, um meine (sicher bald) kommenden Schüler damit zu beglücken. Stattdessen konnte ich beobachten, wie die alten Reiki-Erfahrungen schichtweise von mir abfielen; die neue Einweihung begann immer mehr mein Reikifeld von den alten Verschmutzungen zu reinigen! Die seichte Esoterik fiel von mir ab, die verklausulierte Geldgier fiel von mir ab, die magischen Selbstherrlichkeiten fielen von mir ab. All das Zeug, das ich mir aus den unklaren persönlichen Reikifeldern meiner ersten beiden Lehrer angezogen hatte, schmolz dahin.
Gleichermaßen schmolz der Wunsch dahin, selbst Schüler anzunehmen und Reiki-Einweihungen zu geben. Die Meistereinweihung hatte meinen persönlichen Erfahrungszyklus abgerundet, abgeschlossen. Hände aufzulegen oder Energien fliessen zu lassen wurde immer mehr zum selbstverständlichen Teil meines Seins. Symbole brauchte ich dafür nicht; wenn es gebraucht wurde, war es einfach da. Ich lernte neben der „weissen“ Energie, Wärme und liebevollen Vibration von Reiki und der „blauen Energie“, dem Informationsfluss des Medizinbuddha, noch mehr Energien kennen, vor allem eine aus meinem überpersönlichen essentiellen Wesenskern hervorquellende kristalline Energie, die immer mehr zum Träger aller anderen Energien wurde.
Gelegentlich habe ich schon mal Menschen auf deren Wunsch
hin ohne spezielles Ritual „eingeweiht“ um ihre blockierten Energiekanäle
durchzuspülen und ihnen erste Erfahrungen mit ihrem eigenen Energiefluss zu
vermitteln. Ich nannte es nicht Reiki, auch wenn immer Reiki mit drin war.
Heute bin ich einfach ich selbst, Quelle und Kanal für jede nützliche Energie, zu deren Vermittlung ich fähig bin, wenn jemand eine entsprechende Offenheit mitbringt. Kein Gerede darüber, es passiert einfach, die einen mögen es und andere ganz und gar nicht. Ich verweile im Wuwei, im handelnden Nicht-Tun, und darf erfahrungsgemäß vertrauen, dass alles seine Richtigkeit hat, auch wenn es sich akut mal nicht so anfühlt.
Ist das nun eine Abkehr von Reiki, oder vielleicht doch eine implizite Meisterschaft, die dem eigentlichen Kern von Reiki näher kommt, als jedes Ritual?