Es gibt zwischen der englischen und der deutschen Sprache manchmal höchst spannende Unterschiede in der Bedeutung, wenn man Buchstabe für Buchstabe übersetzt. So ist im Deutschen das "Selbstbewusstsein" im Grunde gleichbedeutend mit "Selbstsicherheit". Dem Anglophilen ist aber bekannt, dass "self-consciousness" gar das Gegenteil von "self-confidence" darstellt. Nämlich Selbst-Unsicherheit. Die kulturelle Etymologie dieses Umstandes ist mir nicht bekannt (wer das erhellen kann, der möge sich mir hier mitteilen), aber in Anbetracht der menschlichen Realität finde ich die Unterscheidung im Englischen zumindest hilfreich, wenn nicht gar präziser.
Wenn ich selbstsicher auftrete, bin ich meist eins mit der Situation, handele aus Gewohnheit oder -besser - aufgrund mit der Zeit durchgerutschter Erfahrungsweisheit. Selten mache ich mir dabei gleichzeitig reflektorische Gedanken über mein Auftreten. Allerdings zeigen Herden verbohrter Alphamännchen, dass mit der Selbstsicherheit nicht unbedingt etwas über die Qualität des Auftretens gesagt ist. Und man kann ja durchaus auch höchst Selbstsicher ins Verderben rennen.
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Bild: Public Domain |
Sagen wir jetzt im Sinne der folgenden Ausführungen, Selbstsicherheit sei Stufe eins einer möglichen Persönlichkeits-Entwicklung. Die aber, wie sich zeigen wird, einen zyklischen oder spiralischen Charakter hat, so dass wir mit dieser "1" nur einen beliebigen Einstiegspunkt festlegen. Der nächste Schritt einer bewussten Bewusstwerdung ist dann, sich bewusst zu werden, in diesem Fall sich des Selbst bewusst zu werden.
Während wir also aware werden (uns gewahr werden), dass wir ein Selbst sind oder haben, das auf eine bestimmte Weise zu handeln pflegt, installieren wir einen Beobachter zweiter Ordnung. Also einen Beobachter, der den Beobachter be(ob)achtet.
Diese self-awareness kann in vielen Fällen zu self-consciousness führen, also zur Verunsicherung. Denn man beginnt zu vergleichen. Sich mit anderen; das eigene tatsächliche Verhalten mit dem gewohnten Selbstbild; die eigenen Ausbrüche mit den eigenen Ansprüchen. Bei genauerer Betrachtung sind letztere meist allerdings gar nicht die eigenen, sondern blos internalisierte Erwartungen der Umwelt. Aber das ist eine andere Geschichte...
Hier geht es um diese unendliche Geschichte:
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Bei meinem ganz eigenen Prozess der Mehr-Menschwerdung bewege ich mich derzeit oft an so einem Punkt in der Bewusstseins-Schleife: um zu überprüfen, ob meine Ausdrucksformen kompatibel mit meiner Umwelt sind, nutze ich meine Empathie, um die Gefühlswelten meiner Umwelt zu erkunden und schaue dann, was ich davon bei mir installieren kann, ohne meine Persönlichkeitsstruktur zu verwässern. Das klingt recht abgehoben, aber tatsächlich ist das bis zu einem gewissen Grad vermutlich identisch mit dem Prozess, den ein Kind in immer wieder neuen Schleifen durchmacht, bis es seine individuelle "Persönlichkeitsstruktur" ausgebildet hat, sprich: erwachsen wird. Mit dem Unterschied, dass meine innere Messlatte eine ausgewachsene spirituelle Kernpersönlichkeit ist. Eben ein paar Runden weiter auf der Spirale.
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Trotzdem ist die Verunsicherung vermutlich in vielen Punkten identisch mit der eines Jugendlichen, der aus dem hoffentlich sicheren Hafen des Familiensystems in die offenen Ozeane der Selbstfindung aufbricht. Ein Zuviel an Selbstsicherheit (als "spirituell überlegenes Wesen") wirkt schnell überheblich, zu wenig davon (als menschlich verunsicherter Retreat-verlasser) macht einen zur Projektionsfläche für unausgereifte Gedanken- und Gefühlswelten.
Nun wäre dies keine Entwicklungsspirale, wenn es nicht eine Rekursion hin zum Ausgangspunkt gäbe, die sich auf einer Schleife höherer Ordnung bewegt. Wenn dieses selbst-unsichere Reflektieren und Ein- und Aussortieren von möglichen Menschlichkeiten einen gewissen Sättigungsgrad erreicht hat, dann kann man sich in die erlangte Interims-Persönlichkeit probehalber mal zeitweise fallen lassen, um auszutesten, wie man selbst und die Umwelt im Alltag darauf reagieren.
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Passt dann alles: bestens! Mission erfüllt. Ansonsten: auf die Nase fallen ist eine authentische menschliche Erfahrung, die in den meisten Fällen wesentlich zu anwachsender Erfahrungsweisheit beiträgt. Und dann kann man natürlich Kurskorrekturen vornehmen. Wenn es nur kleinere Anpassungen sind, geht das prima im laufenden Betrieb. Und wenn das ganze Konstrukt ein Fehlgriff war, dann kann man auch einfach nochmal alles bis auf die Kernstruktur fallen lassen und eine Ehrenrunde drehen.
Natürlich gibt es keine ewig passenden Persönlichkeitsstrukturen. Was gestern noch nützlich war, kann morgen schon wieder aus der Mode sein. Aber solche fortlaufenden Entwicklungen und Wachstümer im Gesamtkonzept sind Bestandteil des ausgereiften Kostüms. Es wächst natürlich mit. Was ich hier beschreibe sind Prozesse, die damit zu tun haben, das ganze Kostüm abzulegen und ein Neues zu schneidern - oder zumindest größere Teile davon.
Ich bin überzeugt, dass längere Retreats, so notwendig sie in vielen Fällen sein mögen, zu einer gravierenden Entfremdung von der Umwelt führen können. Das betrifft auch unfreiwillige Retreats z.B. aufgrund einer Krankheit - oder weil man auf einer einsamen Insel gestrandet ist. Viele Menschen sind sich selbst so eine Insel, zurückgezogen in ihre Wohnstube, sich selbst vor dem Computer vergessend. Auch eingefleischtes Nerdtum, will man es mal wieder aufgeben, kann einen in diese Prozesse führen. Wenn meine eigenen Erfahrungen dem Einen oder Anderen behilflich sind, dabei nicht in die Falle autopoietischer self-consciousnesses zu tappen, bei der jede erlebte Verunsicherung nur zu noch mehr Selbst-Unsicherheit führt, so dass man sich wieder ins Schneckenhaus zurückzieht, statt das Leben mit einem neuen Anlauf auf die Hörnchen zu nehmen, (selbst-)bewusst Neuland betretend, dann bin ich zufrieden mit diesem Artikel.
Denn um Selbst-Bewusstsein zu werden, zu verkörpern, müssen wir uns an das Menschlichste in der menschlichen Erfahrung heranwagen und uns mitten ins nicht-digitale Getümmel stürzen, kopfüber, erhobenen Hauptes, aber bitte nicht mit dem Kopf zuerst.
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